Im Deutschunterricht haben wir uns mit Friedrich Schiller und dem Trauerspiel «Maria Stuart» beschäftigt. Dabei kamen wir mehrfach auf ein zentrales Konzept der Weimarer Klassik zu sprechen, die sogenannte «schöne Seele». Für Schiller verkörpert sie das Ideal eines Menschen, der aus innerer Überzeugung moralisch handelt – nicht, weil er muss, sondern weil er es selbst will. Pflicht und Neigung stehen bei einer Person mit einer «schönen Seele» im Einklang.
In der Figur Maria Stuart zeigt Schiller dieses Ideal der «schönen Seele». Bereits in einer der ersten Szenen erkennt man dies, als Paulet ihr den Schmuck, den sie noch aus der Zeit in Frankreich besitzt, wegnimmt. Kennedy, Marias Amme, ist empört, denn laut ihr hat Maria nun nichts königliches an Wert mehr. Jedoch bleibt Maria ruhig und sagt, dass es nicht der Reichtum ist, der sie als Königin ausmacht, sondern ihre Haltung. Dies zeigt, dass Maria sich nicht durch Äusserlichkeiten definiert, sondern durch ihre Einstellung und ihre Überzeugungen. Schiller bemüht sich, Maria schon früh als «schöne Seele» darzustellen – also als einen Menschen, bei dem Pflicht und Neigung im Einklang stehen.
Doch im weiteren Verlauf der Geschichte gerät sie erneut in einen inneren Konflikt, als Mortimer versucht, sie zu einem politischen Widerstand zu bewegen. Sie wird aus ihrer inneren Ruhe gerissen. Erst im dritten Akt, bei der Begegnung mit Elisabeth, der Königin von England, findet Maria endgültig zu sich selbst zurück. Dies zeigt sich daran, dass Maria Elisabeth nicht länger um Gnade bittet, sondern ihr offen die Meinung ins Gesicht sagt - wohlwissend, mit den Konsequenzen leben zu müssen.
Am Ende steht Maria aufrecht im Angesicht des Todes. Kurz vor ihrer Hinrichtung trifft sie noch einmal auf Melvil, der inzwischen Priester geworden ist, und legt ihm gegenüber ihre Beichte ab. Dadurch wird sie symbolisch von ihren Sünden reingewaschen – sie erkennt ihre Fehler an und übernimmt die Verantwortung. Diese Szene macht deutlich, wie weit Maria sich entwickelt hat. Schiller inszeniert sie als gereifte Figur, deren Pflichtbewusstsein und innere Überzeugungen im Gleichgewicht stehen, ein Idealbild der «schönen Seele».
Im Gegensatz dazu steht Elisabeth, die als Königin zwar über Leben und Tod entscheidet, sich aber letztendlich aus der Verantwortung zurückzieht und andere für ihre Entscheidung leiden lässt. Zu Beginn hatte auch Elisabeth das Potenzial zur «schönen Seele». Sie wägte ihre Entscheidungen gründlich ab und war beim Volk durchaus beliebt. Doch im entscheidenden Moment versagt sie. Sie hadert mit sich und gibt die Papiere zur Vollstreckung mit unklaren Anweisungen an ihren Diener Davidson. Maria währenddessen triumphiert mit ihrem Tod und Elisabeth verliert die Kontrolle. Sowohl Schrewsbury und Leicester verlassen sie. Am Ende bleibt sie zurück - als gescheiterte «schöne Seele», der es nicht gelingt, Pflicht und Neigung in Einklang zu bringen.
Auch in moderneren Geschichten findet man Figuren, die einen an Schillers Ideal der «schönen Seele» erinnern. Ein Beispiel dafür ist Elsa aus dem Animationsfilm «Die Eiskönigin». Wie Maria Stuart steht auch sie in einem Konflikt zwischen ihrer Pflicht und ihrer Neigung oder auch ihrer Natur. Elsa verfügt über magische Eiskräfte. Zu Beginn versucht sie, diese zu verbergen, um den Erwartungen an ihre Rolle als Königin gerecht zu werden. Im Verlauf der Geschichte merkt Elsa jedoch, dass sie sich nicht länger verstecken kann. Sie beginnt, ihre Kräfte zu akzeptieren, und erkennt, dass sie nicht nur eine Gefahr darstellen, sondern auch eine Stärke sein können, wenn sie richtig mit ihnen umgeht. Sie handelt nun nicht mehr nur aus Pflichtgefühl, sondern auch aus eigener Überzeugung. Im weiteren Verlauf schafft Elsa es, ihre Rolle als Königin mit ihren eigenen Werten in Einklang zu bringen.
Maria und Elsa durchlaufen beide einen Entwicklungsprozess, in dem sie sich mit ihren inneren Konflikten auseinandersetzen und lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Auch wenn die Geschichte bei Elsa nicht so tragisch endet, gibt es Parallelen zwischen den beiden: Beide Frauen durchlaufen einen Entwicklungsprozess, bei dem sie Klarheit gewinnen und letztendlich zu ihren Überzeugungen stehen. Maria findet im Angesicht des Todes zu sich selbst zurück und tritt gefasst und aufrecht zu ihrer Hinrichtung. Elsa hingegen erkennt, dass sie sich und ihre Kräfte nicht länger verstecken muss, und beginnt, offen mit ihnen umzugehen. Beide Figuren stehen am Ende für das Ideal der «schönen Seele» von Schiller, in der Pflicht und Neigung im Einklang stehen.
Friedrich Schiller (2004): Maria Stuart. Text und Kommentar. Kommentiert von Wilhelm Grosse. Suhrkamp.
Schulunterrichtsmaterial: Weimarer Klassik, Literarische Programmatik
Disney (2013): Die Eiskönigin - Völlig unverfroren. Regie: Chris Buck, Jennifer Lee. Walt Disney Animation Studios.